Der Aufschrei nach dem ersten Olympia-Kampf von Imane Khelif ist laut und schrill. Das IOC versucht danach verzweifelt, die Debatte um das Geschlecht der algerischen Boxerin unter Kontrolle zu bekommen. In dieser kursieren reichlich Falschinformationen.
Das olympische Frauenboxen gerät durch die aufgeheizte Geschlechterdebatte in einen „Kulturkrieg”. IOC-Präsident Thomas Bach versuchte, bei einem Treffen mit Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni die Wogen zu glätten. Donald Trump verkündete für das hochkomplexe Thema dagegen einen wenig überraschend simplen Lösungsansatz. „Ich werde alle Männer aus dem Frauensport fernhalten!”, ließ der frühere US-Präsident via Social Media verlauten. Die Stunde der Populisten hat geschlagen. Laut und schrill brüllen sie: In Paris prügeln Männer auf Frauen ein.
Mitten in dem hochemotional geführten Streit um das Startrecht finden sich die algerische Boxerin Imane Khelif und Lin Yuting aus Taiwan wieder, die vom Internationalen Olympischen Komitee für die Frauen-Wettbewerbe in Paris zugelassen wurden, nachdem der Weltverband sie im Vorjahr bei der WM noch disqualifiziert hatte. Die IBA hatte so entschieden, weil die Boxerinnen die „Teilnahmebedingungen” im Bezug auf ihr Geschlecht nicht erfüllt haben. Sie hatten offenbar einen Testosteron-Test nicht bestanden. Das stand zumindest noch am Donnerstag in Khelifs Olympia-Profil.
Mittlerweile ist der Eintrag gelöscht und die Verwirrung noch größer. Wie genau der Gender-Test aussah, den die IBA vornahm, ist völlig unklar, zur Aufklärung trägt der vom IOC nicht mehr anerkannte Verband nicht bei. Testosteron sei es nicht gewesen, aber worauf getestet wurde, bleibt ein Geheimnis. Für das IOC ist klar: Khelif und Lin sind Opfer einer „willkürlichen Entscheidung”, die ohne „ordnungsgemäßes Verfahren” getroffen wurde. Und überhaupt: Imane Khelif, „wurde als Frau geboren, als Frau registriert, sie hat immer als Frau gelebt, hat als Frau geboxt, und in ihrem Pass steht, dass sie eine Frau ist”, sagte IOC-Sprecher Mark Adams mit Nachdruck. Er betonte: „Das ist kein Transgender-Fall. Es ist kein Fall von: Ein Mann kämpft gegen eine Frau. Darüber besteht wissenschaftlich Konsens.”
Das IOC in Erklärungsnot
In der aufgeheizten Diskussion warnte das IOC derweil vor einer Eskalation. „Wir dürfen daraus keinen Kulturkrieg machen, sondern müssen an die Menschen denken, die von Falschinformationen betroffen sind”, sagte IOC-Sprecher Adams. Schon allein die Diskussion um das Geschlecht von Khelif und Lin sei „ein Minenfeld”, die Athletinnen könnten seelische Schäden erleiden.
Das IOC aber hat auch sein Sonderweg für das Boxen in diese ausweglose Lage manövriert. Die IBA ist nach zahlreichen Skandalen nicht mehr Teil der olympischen Familie, der neue Boxverband World Boxing besitzt nicht genügend Rückhalt, um eine einflussreiche Rolle in der Sportwelt zu spielen. Also organisiert das IOC in Paris bereits zum zweiten Mal die Boxwettkämpfe selbst, wirklich vorbereitet auf eine solch verfahrene Situation wirken die Herren der Ringe nicht.
Mark Adams geriet bei der täglichen Fragerunde im Palais des Congres am heutigen Freitag gehörig unter Druck. Das IOC, sagte er, versuche „immer eine Balance zwischen Inklusion, Fairness und auch Sicherheit zu finden”. Die Sicherheit der Athletinnen und Athleten stehe stets an erster Stelle. Und: Das Thema könne man nicht in „Schwarz und Weiß” einteilen. Das ist allerdings längst passiert – und das IOC in Erklärungsnot geraten.
„Durch nichts ist bestätigt, dass diese Person männlich ist”
Derweil springt Ex-Weltmeisterin Amy Broadhurst aus Irland Khelif zur Seite. Broadhurst, die bei der WM 2022 gegen Khelif gewonnen hatte, forderte die Menschen in den sozialen Medien dazu auf, „mit dem Mobbing aufzuhören”. Sie glaube nicht, dass Khelif „irgendetwas getan hat, um ‘zu schummeln'”, schrieb sie bei X: „Ich denke, es liegt in ihrer Geburtsgeschichte und das liegt außerhalb ihrer Kontrolle.”
Broadhurst wies darauf hin, dass Khelif neunmal gegen Frauen verloren habe, „das sagt alles”, schrieb sie und erinnerte daran, dass „durch nichts bestätigt ist, dass diese Person männlich ist”. Auch die unterlegene Italienerin Angela Carini äußert mittlerweile Verständnis. „All diese Kontroversen haben mich traurig gemacht, und es tut mir für meine Gegnerin leid, sie hat nichts damit zu tun, sie war wie ich hier, um zu kämpfen”, sagte Carini der „Gazzetta dello Sport”.
IOC-Sprecher Adams hatte zuvor erklärt, das Internationale Olympische Komitee stehe „in sehr engem Kontakt mit der Athletin und ihrem Team”. Auch er beklagte die „schrecklich vielen Beschimpfungen” im Netz. Khelif werde „stigmatisiert und möglicherweise aus einem Wettkampf gedrängt”. Am Samstag tritt die 25-Jährige in der Klasse bis 66 Kilogramm im Viertelfinale gegen Anna Luca Hamori aus Ungarn an. Bei einem Sieg hat sie eine Medaille sicher. Und auch Lin hat weiter Chancen auf eine Medaille. Gegen die Usbekin Sitora Turdibekowa gewann die 28-Jährige deutlich 5:0.