46 Sekunden dauert der Boxkampf bei den Olympischen Spielen lediglich, dann zieht Imane Khelif in die zweite Runde ein. Doch die Aufregung ist riesig, das Geschlecht der Algerierin wird infrage gestellt. Viele Unwahrheiten machen die Runde – auch Regina Halmich mischt mit.
Imane Khelif war vor diesen Olympischen Spielen nur absoluten Box-Insidern bekannt. Die 25 Jahre alte Algerierin ist in Paris aber in den Mittelpunkt gerückt worden. Unfreiwillig, weil einige ihr und der Taiwanerin Lin Yuting das Frau-Sein aberkennen.
Auch Ex-Boxerin Regina Halmich gehört zu denjenigen, die sich entgegen der Fakten aufregen. „Was ich davon halte, dass bei den Olympischen Spielen ein biologischer Mann gegen eine Frau boxt? Ich könnte es jetzt ausführlich erklären. Habe ich aber gar keine Lust zu. Ich mache es kurz und knapp: Lasst diesen Scheiß!”, echauffierte sie sich in einem Video bei Instagram.
Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni von der rechtskonservativen Partei Fratelli d’Italia mischte sich ein: „Man muss in der Lage sein, auf gleicher Augenhöhe zu kämpfen. Von meinem Standpunkt aus war es kein Wettbewerb unter Gleichen”, sagte die 47-Jährige. „Ich denke, dass Athleten, die männliche genetische Merkmale haben, nicht zu Frauenwettbewerben zugelassen werden sollten. Nicht, weil man jemanden diskriminieren will, sondern um die Rechte der weiblichen Athleten zu schützen, damit sie unter gleichen Bedingungen konkurrieren können.” Auch „Harry Potter”-Autorin J.K. Rowling, die sich in den vergangenen Jahren vehement auf zwei Geschlechter beruft und die Existenz von Trans- und Inter-Menschen leugnet, äußerte sich. Der Tenor: maximaler Skandal! Hier schlägt ein Mann auf Frauen ein.
IOC: „Sie sind Frauen”
In die Welt gesetzt worden waren die Zweifel vom Box-Verband IBA, der wegen Korruption vom Internationalen Olympischen Komitee suspendiert ist und auch nicht bei den Olympischen Spielen mitwirken darf. Die IBA hatte die beiden Sportlerinnen im vergangenen Jahr von der Weltmeisterschaft ausgeschlossen. Lin war sogar erst nach dem Gewinn ihrer Bronzemedaille disqualifiziert worden. Zeitweise war dies mit erhöhten Werten des männlichen Sexualhormons Testosteron begründet worden. Laut der IBA wurden die Athleten aber gar keiner Testosteron-Untersuchung unterzogen, sondern „einem separaten und anerkannten Test, wobei die Einzelheiten vertraulich bleiben”. Das Urteil: „Dieser Test ergab eindeutig, dass beide Athletinnen die erforderlichen Kriterien für die Teilnahme am Wettbewerb nicht erfüllten und dass sie Wettbewerbsvorteile gegenüber anderen weiblichen Teilnehmern hatten.”
IBA-Präsident Umar Kremlew, der genauso gesperrt ist wie sein Verband, hatte über die Resultate des nicht näher benannten Tests dann gesagt: Die Athletinnen verfügten über „XY-Chromosomen”. Ob Khelif womöglich eine seltene genetische Disposition und neben einem X-Chromosom auch ein Y-Chromosom hat, ist unbekannt. Studien zufolge weisen etwa 6,4 von 100.000 Frauen XY-Chromosomen auf. Das macht keine von ihnen automatisch zum Mann. Frauen mit XY-Chromosomen haben bereits Kinder zur Welt gebracht.
Für diese Olympischen Spiele hat ihnen das IOC die Startberechtigung erteilt und unmissverständlich klargestellt: „Sie sind Frauen.” Das IOC beklagte „irreführende Informationen” über die beiden Sportlerinnen. „Beide waren Opfer einer plötzlichen und willkürlichen Entscheidung der IBA.” Diese sei „laut der auf der IBA-Website verfügbaren Protokolle allein vom IBA-Generalsekretär” getroffen worden. Das IOC machte die IBA für die „aktuelle Aggression” verantwortlich.
Schwimmerin Lia Thomas, Leichtathletin Caster Semenya
IOC-Sprecher Mark Adams verteidigte die Zulassung der beiden Boxerinnen. „Es sind Menschen involviert, wir sprechen über das Leben von Menschen. Sie sind in Frauenwettbewerben angetreten, sie haben gegen Frauen gewonnen und sie haben gegen Frauen verloren über die Jahre”, sagte Adams.
Vor der WM 2023 hatte es nie Auffälligkeiten bei Khelif und Yuting gegeben. Khelif war schon seit 2018 bei Weltmeisterschaften der Amateurboxerinnen angetreten. Nie fiel sie übrigens mit irgendeiner vermeintlichen Überlegenheit auf, 2018 war sie 17. geworden, 2019 sogar nur 33., erst 2022 holte sie Silber, weil sie den Einzug ins Finale schaffte. Die Spiele 2021 in Tokio hatte sie auf Platz fünf beendet.
Doch mit diesen Positionen ist die Diskussion darüber eröffnet, was alles unbekannt ist. Gender und Sport ist ein riesiges Feld. Die Kategorisierung in das binäre System Mann und Frau stoßen im Spitzensport an dessen Grenzen, egal in welche Richtung es geht, es wird schnell diskriminierend. Von den 32 Sportarten gibt es nur eine, die diese Einteilung nicht trifft: das Reiten. Sowohl in der Vielseitigkeit mit Olympiasieger Michael Jung als auch in der Dressur und im Springreiten gibt es nur einen Wettbewerb für alle Geschlechter.
Khelif ist nicht die erste Sportlerin, über deren Geschlechts-Zuschreibung diskutiert wird. Mit Laurel Hubbard durfte eine Gewichtheberin bei den Olympischen Spielen in Tokio bei den Frauen antreten, deren Geschlechtsmerkmale bei der Geburt männlich ausgeprägt waren. Der Internationale Sportgerichtshof CAS hat im Fall der Transgender-Schwimmerin Lia Thomas, die als Erste bei College-Meisterschaften in den USA siegte, geurteilt, dass sie nicht an internationalen Wettbewerben teilnehmen darf.
In der Leichtathletik wurde Caster Semenya an den Pranger gestellt. Die 800-Meter-Olympiasiegerin von Rio 2016 ist eine Athletin mit „Differences of Sex Developement”. Sie wurde ihrer Anklage zufolge entwürdigenden Geschlechtstests unterzogen, dürfte inzwischen nur noch in der Frauenklasse mitmachen, wenn sie ihren Testosteronspiegel mit Medikamenten künstlich senkt. Sie hat infolgedessen ihre Karriere beendet.
Khelifs Testosteronwerte im Rahmen
Doch während bei Semenya die höheren Testosteronwerte nachgewiesen sind, ist das bei Khelif nicht so. Im Gegenteil: Mit der Zulassung zu den Olympischen Spielen ist auch klar, dass Khelifs Testosteronspiegel aktuell und mindestens in den vergangenen zwölf Monaten unter den geforderten zehn nmol/L liegt. Auch, dass sie „biologisch” ein Mann sei, wie Halmich behauptete, ist nicht wahr. Sie ist auch nicht trans, sondern wurde als Mädchen geboren und hat nie eine Transition durchgemacht – was in Algerien noch zumal verboten ist. Khelifs Vater verbot ihr Berichten zufolge als Kind, Sport zu machen, weil er Boxen nicht für angemessen für Mädchen hielt.
Das algerische Olympische Komitee verurteilte die Kritik an Khelif: „Diese auf Lügen basierenden Diffamierungsversuche sind völlig unfair, insbesondere in einem entscheidenden Moment, in dem sie sich auf die Olympischen Spiele, den Höhepunkt ihrer Karriere, vorbereitet”, hieß es in einer Stellungnahme. „Wir stehen alle hinter dir, Imane. Die ganze Nation steht hinter dir und ist stolz auf deine Leistungen.”
Besonders groß wurde die Aufregung, weil Khelif in der Klasse bis 66 Kilogramm die zweite Runde erreichte. Ihre italienische Gegnerin Angela Carini hatte sich nach zwei harten Treffern unter Tränen zurückgezogen. Nach gerade einmal 46 Sekunden. Carinis Trainer Emanuele Renzini sagte in einer ersten Reaktion: „Ich will nicht für das IOC urteilen und ich weiß, dass das Thema schwierig ist, aber dieser Kampf war unfair.” Auch Carini selbst hatte die Debatte durch ihr Verhalten befeuert: Nach dem Ende des Kampfes gab es den üblichen Handschlag nicht.
Italienerin Carini „würde sie umarmen”
Doch am Tag danach äußerte die Italienerin ihr Unverständnis über die Debatte. „Wenn sie nach Meinung des IOC kämpfen darf, respektiere ich diese Entscheidung”, sagte die 25-Jährige der „Gazzetta dello Sport”. Sie habe versucht, die Diskussion auszublenden. „Diese Kontroversen haben mich auf jeden Fall traurig gemacht und es tut mir leid für die Gegnerin, die auch nur hier ist, um zu kämpfen”, sagte Carini.
Der nicht erfolgte Handschlag sei ein Missverständnis gewesen. „Das war keine absichtliche Geste, ich entschuldige mich bei ihr und bei allen. Ich war wütend, weil die Olympischen Spiele für mich vorbei waren. Ich habe nichts gegen Khelif, wenn ich sie noch einmal treffen würde, würde ich sie umarmen”, sagte Carini.
Mit ihrer Aussage, es sei nicht fair, sei nicht Khelif gemeint gewesen. „Das ist absolut nicht so. Es war nicht fair, dass mein Traum so schnell zu Ende gegangen ist”, sagte Carini. Sie habe sich drei Jahre lang vorbereitet und wollte um eine Medaille kämpfen. Der zweite Schlag von Khelif sei für sie wie ein Schock gewesen: „Ich habe aufgegeben, da stimmte etwas nicht. Es war nicht geplant, es war eine instinktive Entscheidung.”
Bemerkenswert entspannt in der ganzen Aufregung blieb die kommende Gegnerin von Khelif: „Ich habe keine Angst. Wenn sie oder er ein Mann ist, wird mein Sieg nur noch größer sein”, sagte die Ungarin Anna Luca Hamori, die im Viertelfinale am Samstag gegen Khelif antritt.